Es ist die Willkür, die Angst macht. Selbst in der Islamischen Republik kommt es vor, dass der Oberste Gerichtshof auf Einwände hört und ein Urteil aussetzt, manchmal entgeht so jemand der Hinrichtung. Dann gibt es Fälle, in denen jemand auf Begnadigung hoffen darf oder wenigstens auf Prüfung des Urteils.
Und dann stirbt er trotzdem. Wird getötet von den Schergen eines Regimes, das oft nicht mal mehr auf die eigene Justiz hört.
So erging es Mohammad Ghobadlou, einem jungen Mann, der unter einer bipolaren Störung litt. Mehrere Mediziner bestätigten die Krankheit; die Richter am Obersten Gericht wollten das Urteil prüfen. Im Januar dieses Jahres dann setzte sich ein Richter durch, der im Land für seine vielen Todesurteile bekannt geworden ist: Abolqasem Salavati. Er urteilt an einem der islamischen Revolutionsgerichte.
Jeder soll wissen: Wenn du protestierst, riskierst du dein Leben
Eines Nachts stand Ghobadlous Familie vor dem Gefängnis, in dem er einsaß, und bat um sein Leben. Salavati ließ den 24-Jährigen trotzdem erhängen - ein Verstoß selbst gegen die Regeln des iranischen Staates. Ghobadlou starb am 23. Januar, er war der neunte Mensch, der im direkten Zusammenhang mit den Mahsa-Amini-Protesten im Herbst 2022 hingerichtet wurde.
Das erste Opfer damals war der Rapper Mohsen Shekari, 23 Jahre alt. Ihn tötete die Justiz nach einem Schnellverfahren schon am 8. Dezember 2022. Da waren die Menschen noch auf den Straßen. Die Hinrichtung sollte allen zeigen, was sie riskieren, wenn sie sich zu protestieren trauen. Auch das Urteil gegen Shekari fällte Richter Salavati. Seitdem folgen seine Kollegen seinem Beispiel - vor allem, weil das Regime nun endgültig weiß, dass seine Macht allein auf Gewalt basiert.
Von dieser Gewalt handelt der Bericht, der beim Uno-Menschenrechtsrat am Freitag veröffentlicht wurde. Eine Kommission hatte seit 2022 untersucht, wie Iran die Proteste niederschlug; sie kommt zum Schluss, dass das Regime "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" begangen hat. Auf Befehle der Führung in Teheran hin hätten die Sicherheitskräfte über 500 Menschen getötet. Von einem "systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung" spricht Sara Hossain, die Vorsitzende der Kommission.
Schon Anfang der Woche ging es im Bericht zweier Menschenrechtsorganisation um Iran. Die Titelseite des Dokuments von "Iran Human Rights" und "Together Against the Death Penalty" zeigt ein heimlich aufgenommenes Handyfoto: Zwei junge Männer hängen von den Armen zweier Baumaschinen. Es ist dunkel, vermummte Polizisten stehen herum. Das Bild wurde am 8. Juli 2023 in der iranischen Großstadt Shiraz aufgenommen. Die Getöteten waren Mohammad Ramez Rashidi und Naeim Hashem Ghotali, zwei der Menschen, die die Islamische Republik öffentlich hinrichtete.
Die jüngsten Zahlen sind ein grausamer Rekord
Auch darin liegt Willkür. Das Regime vollzieht nur wenige Hinrichtungen in der Öffentlichkeit, aber immer wieder kommt es vor. Von den anderen Opfern erfährt die Welt meisten nur, weil Organisationen wie Iran Human Rights davon berichten. Die Gruppe arbeitet von Norwegen aus und wenn sie die Toten zählt, erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, weshalb vor den Zahlen immer das Wort "mindestens" steht.
Mindestens 834 Menschen hat das iranische Regime dem Bericht zufolge im Jahr 2023 hinrichten lassen. Nirgendwo auf der Welt ist die Hinrichtungsquote damit so hoch wie in Iran. "Das Verbreiten von Angst ist für das Regime das einzige Mittel, um an der Macht zu bleiben", sagt Mahmood Amiry-Moghaddam, der Direktor von Iran Human Rights. Die Hinrichtungen seien dabei "das wichtigste Instrument".
Die Opferzahlen variieren leicht. Auch die oppositionellen Volksmudschahedin dokumentieren das staatliche Töten in Iran. Sie zählten 864 im Jahr 2023. Ihre Zahlen zeigen wie die von Iran Human Rights einen deutlichen Anstieg, vor allem seit den Protesten. 2023 ließ das Regime über ein Drittel mehr Menschen als im Jahr zuvor töten. Unter den Opfern sind vor allem Angehörige von Minderheiten wie den Belutschen. Sie machen fünf Prozent der Bevölkerung und laut den Volksmudschahedin 22 Prozent der Hingerichteten aus. Den Oppositionellen zufolge ließ das Regime auch mehrere Minderjährige töten, also Menschen unter 18 Jahren. In Iran sind Jungen ab 15, Mädchen schon ab neun Jahren strafmündig.
Viele Urteile ergingen vor den Revolutionsgerichten, die Richter wie Abolqasem Salavati hervorbringen. Sie sind für Vergehen gegen die Islamische Republik zuständig, also gegen das Regime der Kleriker als solches. Die Revolutionsgerichte verhandeln aber auch in angeblichen Rauschgiftverfahren, in denen sie Menschen besonders oft zum Tod verurteilen, häufig auf der Grundlage erpresster Geständnisse.
Als die iranische Justiz vor einigen Wochen einen politischen Gefangenen hinrichtete, einen Kurden, wendeten sich seine Mitgefangenen an die Öffentlichkeit. In ihrem Brief nehmen sie Bezug auf den Krieg in Gaza. Seit dem 7. Oktober sind die Hinrichtungszahlen noch weiter gestiegen, das Regime erhöht im Inneren den Druck. "Lasst bitte nicht zu", heißt es in dem Brief, dass der Krieg "den Weg für staatlichen Mord an Mitmenschen ebnet".
Von Raphael Geiger, Istanbul
Süddeutsche zeitung